Senf ab: Die Kunst des Scheiterns
Ein “Dark Souls” und ein “Flappy Bird” haben auf dem ersten Blick nicht wirklich etwas gemeinsam. Das eine ist ein Fantasy-Rollenspiel, Millionenprojekt, Liebling der Kritiker und Fans gleichermaßen. Das andere ist – beziehungsweise war – ein Handyspiel, das von einem einzigen Mann innerhalb weniger Tage zusammengebastelt wurde und ebenso viel Hass wie Freude generierte. Sätze wie Ich hasse dieses Spiel so sehr musste sich der kleine Vogel häufiger anhören.
Trotz aller offensichtlichen Unterschiede verbindet “Flappy Bird” und die “Souls”-Reihe etwas. Es ist ein wesentliches Spielelement: Das Paradox des Scheiterns. Es ist eigentlich ein Grundbedürfnis des Menschen, erfolgreich zu sein und die ihm gestellten Aufgaben möglichst kompetent und effektiv zu lösen. Trotzdem entscheiden sich Menschen auf der ganzen Welt jeden Tag dafür, ein Spiel zu spielen, in dem sie mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit scheitern werden. Gamer entscheiden sich nicht nur bewusst dazu, sich inkompetent und erfolglos zu fühlen, sie bevorzugen sogar Spiele, die das Scheitern als wesentlichen Aspekt des Spielablaufs einbauen. Sie fordern das Gefühl gezielt heraus.
Jesper Juul, Spieleforscher an der Königlichen Dänischen Kunstakademie in Kopenhagen, hat diesem Widerspruch ein ganzes Buch gewidmet. In “The Art of Failure” untersucht er die Frage, warum das Paradox des Scheiterns nicht nur ein mit Murren hingenommenes Übel ist, sondern als wichtiges Spielelement empfunden und sogar eingefordert wird. Menschen lieben gerade die Spiele, in denen sie scheitern, auch wenn die Spieler beim Spielen selbst nicht den Eindruck machen.
Im Buch spricht Juul mit einer Ehefrau, die die Spielgewohnheiten ihres Mannes ziemlich gut durchschaut hat: “It’s easy to tell what games my husband enjoys the most. If he screams ‘I hate it, I hate it, I hate it’, then I know he will finish it and buy version two.” (“Es ist einfach festzustellen, welches Spiel mein Ehemann am liebsten mag. Wenn er schreit ‘Ich hasse es, ich hasse es, ich hasse es’, dann weiß ich, dass er es durchspielen und Teil zwei kaufen wird.”)
Ist der gemeine Gamer aber nun das einzige Wesen, das diesen selbst erschaffenen Widerspruch auslebt und wütend mit Controllern nach den Games wirft, die er doch eigentlich so sehr liebt? Juul beantwortet diese Frage mit einem klaren Nein und führt als Beispiel das klassische Theater im Sinne von Aristoteles an. Ja, genau, der alte Philosoph aus Griechenland, den die meisten wohl noch aus dem Deutschunterricht in der Oberstufe kennen. Aristoteles fragte sich, warum sich Menschen Dramen anschauen, in denen sie mit Themen und Problemen konfrontiert werden, die sie sonst versuchen zu vermeiden.
Warum schauen wir Menschen zu, denen Schlimmes zustößt, die teilweise sogar an ihrem Leid zerbrechen? Aristoteles beschreibt dieses Phänomen mit dem Begriff der Karthasis, was übersetzt so viel bedeutet wie Reinigung. Die Zuschauer eines Dramas werden mit Situationen konfrontiert, die Mitleid und Furcht erregen sollen. Dadurch werden die Zuschauer von den eigenen Affekten “gereinigt”. Sehen die Zuschauer also ein Drama, in dem der Protagonist einen Mord begeht und sich daraufhin den Folgen seiner Tat stellen muss, werden die Zuseher von dem Affekt, selbst einen Mord begehen zu wollen, befreit.
Noël Carroll ist weder Grieche noch ein antiker Philosoph, trotzdem hat auch er einen Erklärungsansatz für das paradoxe Verhalten von Kulturkonsumenten: Als Filmtheoretiker hat sich Carroll intensiv mit Horrorfilmen und deren Faszination auf die Zuschauer beschäftigt. Normalerweise empfinden Menschen Furcht als negatives Gefühl und vermeiden Situationen, in denen sie sich fürchten. Bei Horrorfilmen ist das anders. Während dieser Filme gruseln sich die Menschen freiwillig, bezahlen an den Kinokassen sogar Geld für den Nervenkitzel. Carroll erklärt dieses Verhalten durch die Neugier des Zuschauers. Der ist nämlich bereit, sich zu fürchten und zu gruseln, um mehr über das Monster zu lernen, das dieses Gefühl in ihm auslöst. Wir schauen uns also “The Ring” an, weil wir wissen wollen, warum Samara ihre Opfer am Telefon terrorisiert und heimsucht. Bei “Paranormal Activity” hofft man die ganze Zeit, den Dämon zu Gesicht zu bekommen. Und man will unbedingt wissen, wer bei “Scream” hinter der Maske steckt.
Genug medialer Exkurs, zurück zum Kern: Juuls Erklärungsansatz dreht sich nicht um Neugier oder den Wunsch nach Reinigung. Juul sieht in Spielen einen geschützen Raum, eine Art universelles Testfeld. Auf der einen Seite sind “Flappy Bird” und “Dark Souls” „nur“ Spiele, die keine Auswirkung auf die reale Welt haben. Trotzdem sind sie in der Lage, tiefgreifende Emotionen hervorzurufen, die sich sogar ins Extreme steigern können.
Games sind eine Art Labor, in denen wir testen können, wie belastbar wir sind. Damit die Experimente dort gelingen, braucht man etwas, das sich einerseits zutiefst sinnvoll anfühlt, damit wir freiwillig möglichst viel Zeit investieren. Andererseits darf es keine oder nur wenig Auswirkungen auf das reale Leben haben, damit wir ständig wieder scheitern können, ohne das eigene Leben zu vermasseln. Für Juul sind Spiele ein Ort der Reflexion, eine ständige Herausforderung des eigenen Könnens.
Spiele können dabei helfen, mit Rückschlägen besser fertig zu werden, uns an ihren Herausforderungen wachsen zu lassen und Probleme effektiver anzugehen. In diesen Punkten unterscheiden sich die Auswirkungen von Spielen auch deutlich von Filmen und Theaterstücken, die uns beeinflussen. Spiele sind interaktiv. In Filmen lernt man von den Fehlern der anderen, in Spielen ist man selbst der oder die Versagende: “When you fail in games it really means that you were in some way inadequate.” (“Wenn du in Spielen scheiterst, bedeutet das, dass du in irgendeiner Art ungenügend bist.”)
In diesem Punkt sind Spiele allerdings auch ein wenig unfair. Schließlich sind die Unzulänglichkeiten, denen man sich stellen muss, erst durch das Spiel entstanden: “This is what games do: they promise us that we can repair personal inadequacy – an inadequacy that they produce in us in the first place.“ (”Das ist, was Spiele machen: Sie versprechen uns, dass wir unsere eigenen Unzulänglichkeiten überwinden können – Unzulänglichkeiten, die man ohne Spiele gar nicht hätte.“)
Spiele können ein knüppelharter Lehrmeister sein, der dir dein Versagen ohne Rücksicht auf Verluste immer wieder ins Gesicht reibt. Wichtig dabei ist nur, dass es nie unfair wird. Wenn man versagt, dann sollte dies immer verdient sein. Wer in “Dark Souls” stirbt, trägt selbst die Schuld daran. Entweder stürzt man einen Abgrund hinunter, weil man sich auf die unsichtbaren Barrieren, die man aus anderen Spielen kennt, verlässt oder man kämpft einfach zu schlecht. Und wer scheitert, wird in “Dark Souls” auch ohne Gnade bestraft. Wer sein Leben verliert, verliert nicht nur seine Seelen, sondern muss den Abschnitt von vorne beginnen.
Am 14. März erscheint “Dark Souls II” und dann geht das fröhliche Scheitern weiter. Das Spiel wird wohl zahlreiche Controller das Leben kosten, weil es vor allem eins ist: sackschwer. “Es ist ein schweres Spiel, aber dafür werden wir uns nicht entschuldigen”, verteidigt Lead Director Hidetaka Miyazaki seine Videospielreihe. Entschuldigen braucht der werte Herr sich auch nicht, denn gerade deswegen werden die Fans “Dark Souls II” wieder lieben.
Wie frustresistent seid ihr über die Jahre geworden? Scheitert ihr auch gerne in der “Souls”-Reihe? Oder habt ihr ein anderes Spiel, mit dem euch eine tiefe Hassliebe verbindet?