Alltag kann verdammt langweilig sein. Die immer gleiche Tasse Kaffe wird begleitet vom immer gleich beschmierten Brötchen, bei der Arbeit und in der Schule folgt eine monotone Aufgabe der nächsten. Zuhause wartet dann nicht etwa das Abenteuer, sondern schmutziges Geschirr und der Berg an dreckigen Hemden, die gewaschen und gebügelt werden wollen. Wer am Abend noch Energie hat und seinen inneren Schweinehund überwindet, schleppt sich ins Fitnessstudio. Denn was muss, das muss. Viel verlockender wäre es aber doch, in einem „Diablo“-Dungeon zu looten und zu leveln, in „FIFA“ den Ball übers Feld zu kicken oder mit seinem Sim Rezepte zu pauken, damit es mit der Beförderung zum Chefkoch doch noch klappt. Stopp. Fällt euch was auf? Auch Videospiele bestehen aus monotonen Elementen. Wer in „Diablo“ oder in „League of Legends“ auf eine ausgedehnte Loot-Tour geht, wiederholt im Wesentlichen auch nur immer gleiche Verhaltensmuster. Laufen, Monster verhauen, Item aufsammeln, Weiterlaufen. Und in „Sims“ putzt man wie ein Verrückter das überflutete Bad, nur damit die Statusbalken nicht in den roten Bereich rutschen, während dem eigenen Geschirr langsam Haare wachsen.

In Spielen fallen uns als unangenehm empfundene Aufgaben leichter. Sie enthalten im Gegensatz zu unseren täglichen Pflichten Elemente, die unseren Spieltrieb ansprechen. Erfahrungspunkte und Fortschrittsbalken geben uns ständig Rückmeldung über unsere Fortschritte. Virtuelle Güter sind ein systematisches Belohnungssystem, das die Motivation oben hält. Wir freuen uns über jede Anerkennung und ziehen fröhlich in den nächsten Mausklick-Marathon, immer in der Hoffnung, durch noch Besseres belohnt zu werden.

Die Idee, spaßfreie Aufgaben mit spielerischen Elementen attraktiver zu machen, ist nicht neu: „Gamification“ heißt das Zauberwort – nach den sozialen Netzwerken der nächste heiße Scheiß für Marketingstrategen. Rabattkarten haben sich dabei bereits als gängigste Form der Gamification etabliert. In „Mario“-Spielen sammelt man Münzen, bei Starbucks Kaffeebohnenstempel. Beim Erreichen einer bestimmten Menge gibt’s eine Belohnung, sei es in Form eines Extralebens oder eines kostenlosen Kaffees. Neuer im Gamification-Markt ist der Weg ins Neuland Internet. Die Rabattmarken werden durch GPS-Daten ausgetauscht, die festhalten, wie oft sich die Nutzer in bestimmten Läden aufhalten. Für die treuesten Kunden lockt dann wieder der Gratiskaffee.

Das Gamification-Prinzip ist aber kein reines Marketingwerkzeug. Im positiven Sinne macht es ganz einfach langweilige Tätigkeiten spannender. Viel braucht es dazu nicht: Gib den Leuten ein klar gestecktes Ziel, halte ihren Erfolg in Form von Erfahrungspunkten und Fortschrittsbalken fest, belohne sie mit virtuellen Gütern und lass sie in Ranglisten ihre Leistungen mit Freunden vergleichen. Bei dieser einfachen Formel geht der Skeptiker in mir natürlich augenblicklich auf die Barrikaden und will einfach nicht glauben, dass er so leicht manipuliert werden kann. Da gibt es nur eins: Den hemmungslosen Gamification-Selbstversuch.


Ich gehe regelmäßig joggen – zumindest versuche ich das. Während des Studiums hat es auch immer ganz gut geklappt, doch seit ich bei Game One arbeite, ist mit dem früheren Aufstehen auch die Motivation flöten gegangen. Erschwerend kommt das kalte Winterwetter hinzu. Gerade dann suhlt sich mein innerer Schweinehund lieber noch ein paar Minuten länger im warmen Bett als in Sportschuhen durch die Kälte zu laufen. Ein Weg aus diesem Lethargie-Teufelskreis soll die App „Zombies, Run!“ sein. Die App ist ein Kickstarter-Projekt von Six to Start und schickt den Spieler als Runner 5 in eine postapokalyptische Welt, in der es – wie sollte es auch anders sein – vor Zombies nur so wimmelt. Der Spieler hat dabei eine einzige Aufgabe: Er muss rennen. Nicht auf dem Bildschirm, nicht per Knopfdruck, sondern mit seinen eigenen zwei Beinen. Per GPS oder Beschleunigungssensor im Handy misst das Spiel, wie lange, wie weit und wie schnell der Läufer unterwegs ist.

Das Spiel selbst funktioniert als interaktives Hörspiel, das sich auf zwei Ebenen abspielt. Auf der narrativen Ebene dreht sich alles um den Spieler, der als Runner 5 versucht, die Basis mit den nötigen Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen. Die Geschichte rund ums Überleben, Hoffnung auf Heilung und Machtkampf sowie die Quests werden dabei in Funksprüchen und Radiosendungen vermittelt. Die andere Ebene übernimmt eine GLaDOS-ähnliche Computerstimme, die während des Laufens die Gegenstände aufzählt, die der Spieler automatisch aufsammelt. Während meines erstens Ausfluges in die Apokalypse verschlug es mich in ein verlassenes Krankenhaus, das Objekt meiner Begierde war eine CDC-Box. Mit den nebenbei gefundenen Konservendosen, Medipacks und Hosen kann ich später meine Basis ausbauen und die Zufriedenheit der vielen Seelen, die hinter den dicken Mauern hocken und auf meine Rückkehr warten, nach oben schrauben.

Die Zombieapokalyse wäre aber kein richtiger Weltuntergang, wenn man einfach unbehelligt ein wenig durch die Ruinen einer verlassenen Stadt laufen könnte. Die Zombies sind überall und wenn die Untoten das laufende Frischfleisch entdecken, gibt es nur eine Rettung: Man muss die Beine in die Hand nehmen und das eigene Tempo erhöhen, um mit dem Leben davonzukommen.

Was soll ich sagen: Es funktioniert. Six to Start haben für ihr Kickstarter-Projekt 12.500 Dollar angestrebt – 72.627 Dollar sind es letzten Endes geworden. Das zusätzliche Geld hat das Entwicklerteam in professionelle Sprecher gesteckt, die den Spieler schnell in die Spielwelt reinziehen. Ich habe mich mehrfach dabei erwischt, dass ich mit einem Blick über die Schulter nach den grunzenden Untoten Ausschau gehalten habe. Durch „Verfolgungsjagden“ wandelt sich mein sonst gemütliches Getrabe in ein durch die Tempowechsel effektiveres Intervalltraining. Am wichtigsten ist aber, dass die App es tatsächlich schafft, den inneren Schweinehund an die Zombies zu verfüttern. Vorher habe ich es vier Monate nicht ein einziges Mal früh genug aus dem Bett geschafft. Mein einziger Sport war der Sprint zur Bahn, wenn ich mal wieder zu spät dran war. Mit „Zombies, Run!“ habe ich es drei Mal in einer Woche auf die Laufstrecke geschafft.

Obwohl ich es mir nicht auf die Fahnen schreiben kann, das Gamification-Prinzip in allen Facetten getestet zu haben, muss ich mich als kleiner Fan outen. Erst recht wenn man bedenkt, was man damit noch alles anstellen kann. In einer Universität in Indiana lässt ein Professor seine Game-Design-Studenten keine Aufgaben lösen, sondern schickt sie in einem Online-Rollenspiel auf Quests. Die Studenten erarbeiten sich den Stoff spielerisch und kassieren nicht nur Noten, sondern auch Erfahrungspunkte. Semesterziel: Erreiche Level 20 und du hast bestanden. Der Erfolg gibt dem Professor recht. Der Notendurchschnitt ist gestiegen, die Studenten sind motivierter und aufmerksamer. Das Konzept funktioniert in seinen Vorlesungen so erfolgreich, dass seine Kollegen es trotz anfänglicher Skepsis ebenfalls in ihren Lehrplan integriert haben. Geschichts- und Mathe-Studenten treten nun in Multiplayer-Wissensspielen gegeneinander an. In der Schule waren Vokabeln mein größter Feind, ich kann aber immer noch alle 151 Pokémon aufzählen – und ihren jeweiligen Typ gleich noch dazu. Das ist Wissen, das ich mir erspielt habe. Wenn man das auf Mathe oder Physik hätte übertragen können, hätte ich in den Fächern wohl besser abgeschnitten.

Im Inneren sind wir alle Spielkinder. Es ist ein menschliches Bedürfnis, sich in Spiele einzuklinken und sich mit anderen zu messen. Wenn man es schafft, das innere Spielkind mit den richtigen Mitteln herauszulocken, freut man irgendwann auch über einen guten Bügel-High-Score.