Christian Ulmen ist möglicherweise einer der besten Schauspieler in Deutschland. Das merkt leider keiner so richtig, weil sich der ehemalige MTV-Moderator seit Jahren in seichten Liebeskomödien unter Wert verkauft und seine Paraderolle als herzensguter Trottel immer wieder neu auflegt. Dabei kann der ehemalige MTV-Moderator so viel mehr. Die geniale Improvisations-Comedyreihe “Mein neuer Freund”, in der Ulmen in verschiedene Identitäten schlüpfte und nichtsahnende Kandidatinnen an den Rand des Nervenzusammenbruchs führte, zeigte schon eindrucksvoll, dass…

Entschuldigung – wie war das gerade? DU kennst “Mein neuer Freund” nicht? Ähm … wow. Okay. Na schön, dann gibt’s nur eines: Du verrätst keinem was davon, klickst auf den nachfolgenden Link und guckst dir jetzt sofort jede Folge an. Vor allem die mit Ecke, Uwe, Alexander von Eich (“Franziskarrrr!”) und Knut Hansen. Wir warten so lange. Pff, “Mein neuer Freund” nicht kennen. Lernt ihr eigentlich gar nichts mehr in der Schule …?

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Genau, Schule, wir wollten ja über “Jonas” reden. Jonas ist 18 Jahre alt, mehrfach sitzengeblieben, die Brandenburger Gesamtschule Paul-Dessau ist seine allerletzte Chance auf einen Schulabschluss. Sein großer Horror ist Mathe, den Logarithmus hat er noch nie kapiert. Er gründet eine Schul-Band, verliebt sich unsterblich in seine Musiklehrerin und hofft, dass er die sechswöchige Probezeit an seiner neuen Schule irgendwie besteht. Außerdem ist Jonas in Wahrheit Christian Ulmen, aufgemacht und geschminkt wie ein ganz normaler Schüler der Mittelstufe, mäßig interessiert, aber nicht unintelligent, geplagt von Zukunftsängsten (vor der nächsten Mathestunde) und erstem Liebeskummer. Und das Kamerateam ist die ganze Zeit dabei.

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Wie schon in “Mein neuer Freund” gibt es kein festes Drehbuch und keine Regieanweisungen. “Jonas” ist eine echte Dokumentation mit einem unechten Protagonisten. Die vollen sechs Wochen über begleitet ein Kamerateam Jonas’ Schulalltag und zeigt damit einen faszinierenden Mikrokosmos, der für einige von euch sicherlich ziemlich dicht dran ist an dem, was ihr so täglich erlebt. Und der älteren Säcken wie mir eiskalte Schauer über den Rücken laufen lässt. Stell dir vor, es ist Schule und du musst wieder hin!

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Anders als noch in “Mein neuer Freund” legt es Christian Ulmen als Jonas nicht darauf an, seine Umwelt mit möglichst peinlichen Aktionen bis auf die Knochen zu blamieren oder bis aufs Blut zu reizen. Wer also Szenen erwartet wie die legendäre Mail von Ecke (Gottverdammt, ich hab’s gesagt, schaut diese Folge! ), in denen man vor Fremdscham hinters Sofa kriecht, wird vielleicht etwas enttäuscht sein. “Jonas” ist nicht so herrlich inkorrekt, so schön-schlimm und damit auch nicht ganz so witzig wie Ecke, Knut Hansen und Co. Jonas provoziert nicht, Jonas setzt höchstens mal ein paar (natürlich sehr kalkulierte) Akzente und guckt dann einfach mal, wie seine Mitschüler auf ihn regarieren. Und, noch wichtiger: Die Lehrer.

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Und dann passiert oft das, was “Jonas” trotz aller unvermuteten Zahmheit und dem Ausbleiben des gewissen Knalleffektes hochgradig unterhaltsam und sehenswert macht: “Jonas” wird echt. Klar, Christian Ulmen ist ein großartiger Schauspieler, aber so ganz kann er dann doch nicht hinter seiner Kunstfigur verschwinden – Jonas ist immer auch ein bisschen Ulmen, seine Marotten, seine Aussprache, seine Körperhaltung. Der unnötige Subplot um Jonas’ entflammte Liebe für seine betagtere Musiklehrerin wirkt forciert und gekünstelt und kommt eigentlich nur vor, damit die Macher auf Pressekonferenzen und Premieren eine Antwort auf die Frage haben, was denn die Handlung von “Jonas” wäre. Und doch gibt es immer wieder Einzelszenen, in denen aus einem verkleideten Mittdreißiger und Medienprofi wirklich ein unbedarfter, verunsicherter Schüler wird, in denen sich diese inszenierte Wirklichkeit auf einmal sehr echt anfühlt. Jeder kann sich an seine Schulzeit erinnern und wahrscheinlich war eure nicht so dramatisch anders als meine.

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Und das sind dann die Momente, in denen es sich doch lohnt, mal genau hinzusehen und hinzuhören. Besonders deutlich wird das in der Logarithmus-Szene, in der Jonas eine Mathe-Aufgabe vorrechnen muss. Alleine. An der Tafel. Und keinen blassen Schimmer hat. Christian Ulmen meint im Presseheft zum Film, dass er in dieser Situation die Anspannung, die Nervosität und Angst gar nicht spielen musste, sondern sie ganz real gespürt hat, und das sieht man. Wer diese traumatische Erfahrung auch schon mal machen musste (das dürften, schätze ich mal, die meisten von euch sein), der kann Ulmens kalten Angstschweiß auf der Leinwand förmlich riechen. Und auf einmal wird aus kameratauglichem Rumgeblödel bleischwerer Ernst, auf einmal fühlt man die Hilflosigkeit, die Qual, das komplette Ausgeliefertsein eines armen Pechvogels, der von seinem Lehrer vor der Augen der gesamten Klasse auseinandergenommen wird. Vielleicht erst in dieser Szene wird einem mal bewusst, wie grausam und unbarmherzig die Schule auch sein kann. “Was für ein Sadist, dieser Mathelehrer”, mag einem da durch den Kopf gehen, “das ist ja wie eine öffentliche Hinrichtung an der Tafel. Lieber würde ich auf der Stelle tot umfallen, als diese Psychofolter ertragen zu müssen.” Und dann stutzt man vielleicht darüber, was eine normale Schulstunde an einer normalen deutschen Schule in einem auslösen kann. Wie gut lernt jemand, der Angst hat?

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Will “Jonas” nun was aussagen oder nicht? Tja, das muss wohl am besten jeder für sich selber entscheiden. Ich würde nicht so weit gehen, “Jonas” tiefgreifenden aufklärerischen Anspruch zu unterstellen. Pädagogisch wertvoll ist Christian Ulmens neues Undercover-Projekt wohl nicht. Aber ganz beiläufig zeigt “Jonas” die andere, die dunkle Seite der Schule, die Langeweile, die Machtspiele, die Frustration; die Seite, die gleichermaßen banal wie todernst ist, in der eine Mathenote über die Zukunft eines Menschen entscheiden kann. In der Schüler frustriert sind von Lehrern, die sich keine Mühe geben, auf sie einzugehen. Und in der Lehrer jeden Tag gegen eine Horde übellauniger Halbwüchsiger kämpfen müssen, die jeden Versuch, auf sie einzugehen, in falscher Coolness abblocken. Wer verdient den schwarzen Peter? Die Lehrer? Die Schüler? Beide? Keiner? Es ist sicherlich kein Zufall, dass Jonas’ neugegründete Band die Sterne-Hymne “Was hat dich bloß so ruiniert” einprobt. Wer hat hier wen ruiniert…?

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“Jonas” hat mich prächtig unterhalten und mich ebenso zum Lachen wie zum Nachdenken gebracht. Außerdem ist es schon eine Wohltat, Ulmen endlich mal wieder undercover zu sehen und nicht in einer weichgespülten RomCom-Schnulze mit deutschen “Stars”. Ich kann den Schul-, Entschuldigung: Kinobesuch also nur empfehlen. Und als nächstes bitte, bitte, den Kinofilm mit Alexander von Eich – Arbeitstitel: “Großvater – Ich habe den Mooond verdunkelt!”

“Jonas” läuft seit heute im Kino. Hier ist der Trailer:

P.S.: Bis zum Ende bleiben – Helge Schneider mit ’nem neuen Song im Abspann! Ach ja – was haltet ihr denn nun von “Jonas”?