Es gibt ein Spiel namens “Super Columbine Massacre RPG!” Darin spielt man Eric Harris und Dylan Klebold, die an der Columbine High School im Jahr 1999 13 Menschen getötet haben – in der bunt-detailarmen Knuddeloptik eines japanischen Super-Nintendo-Rollenspiels. Der 23-jährige Danny Ledone hat das Spiel in sechs Monaten mit dem populären Bastelprogramm RPG Maker” in Heimarbeit fertig gestellt und es 2005 anonym im Internet vertrieben.

Was geht euch jetzt gerade durch den Kopf? Seid ihr entsetzt, angewidert, fassungslos? Oder haltet ihr das Ganze für einen geschmacklosen Scherz eines aufmerksamkeitsgeilen Soziopathen, der unvorstellbares menschliches Leid für billigstes Entertainment ausschlachtet? Selbst die aufgeschlossensten Alles-Spieler unter uns können diese schäbige Provokation nur entschieden ablehnen, oder?

So haben die meisten Leute in den Medien und innerhalb der Gaming-Community reagiert, als sie zum ersten Mal von “Super Columbine Massacre RPG!” gehört haben. Und kaum jemand hat sich ein paar elementare Fragen gestellt: Kann man ein Videospiel, das das Massaker von Columbine behandelt, so einfach als kranken Schund abtun? Ist es wirklich kategorisch ausgeschlossen, dass der Macher des Spiels reflektierte, wohl überlegte Gedanken zum Phänomen “School Shootings” hat und sie mit den Mechanismen eines Videospiels vermitteln wollte? Dass er mit seinem Spiel etwas sagen wollte? Nach einem unfreiwilligen Outing als Kopf hinter dem “Super Columbine Massacre RPG!” schnappte sich Danny Ledone eine Kamera und drehte eine Dokumentation über sich, sein Spiel und was ihn dazu bewegte, sechs Monate seines Lebens zu opfern, um es zu programmieren. Doch “Playing Columbine” ist so viel mehr – eine filmische Liebeserklärung an die Kunstform Videospiel, die noch immer unverstanden ist, die verteufelt, lächerlich gemacht und nicht ernst genommen wird. Professoren, Designer, Spieler, aber auch Kritiker (allen voran der unvermeidliche Jack Thompson ) kommen zu Wort und geben Antwort auf die vielleicht wichtigste Frage, die uns alle angeht: Dürfen Videospiele als Kunst – alles? Und wenn nein: Warum nicht?

Bitte lasst euch nicht davon abschrecken, dass dies hier eine Dokumentation ist und ein Großteil der 94 Filmminuten aus Interview-Sequenzen und Statements betroffener besteht. Ich sag’s euch frei heraus: “Playing Columbine” hat mich berührt wie kaum ein Film in letzter Zeit. Ich spiele, seit ich acht bin, seit über 20 Jahren. Eltern, Lehrer und Freunde haben mich belächelt oder Mitleid mit mir gehabt, dass mein Lieblingshobby vor dem Bildschirm stattfindet. Immer wieder musste ich mich rechtfertigen, dass ich als mittlerweile erwachsener Mann ganze Nächte darauf verwende, die virtuelle Welt zu retten. Ich bin so müde, immer und immer wieder zu erklären, warum Spiele eine ebenso wertvolle Kunstform sind wie Filme, Literatur oder Musik. Und ich danke Danny Ledone aus tiefstem Herzen, dass er diesen Film gemacht hat. “Playing Columbine” hat mich begeistert zurückgelassen, euphorisch, wütend und hilflos – aber vor allem: Stolz. Ich war und bin stolz, ein Gamer zu sein. Und ich bin stolz, dass es diesen Film gibt.

“Playing Columbine” wirft schwierige Fragen auf: Sind Videospiele Kunst? Was macht Kunst überhaupt aus? Warum dürfen sich Schriftsteller, Musiker und Filmemacher mit der Tragödie von Columbine befassen, aber keine Spieledesigner? Wieso sind Videospiele so oft Gegenstand von Zensur und Kontroverse – und haben wir das nicht alles schon erlebt, beim Rock ’n Roll (Chaoten-Musik), bei Comics (Jugendgefährdend), sogar bei Dungeons & Dragons (Satanistisch)? Wer von Ego-Shootern noch immer als “Mördersimulatoren” spricht, wer dieses junge Medium noch immer als substanzlose Zeitverschwendung für unsoziale Kellerkinder abtut, verkennt die gesellschaftliche Realität und steht schon längst auf der Seite der Ewiggestrigen, die hassen, was sie nicht verstehen. Denn – und auch dieses Gedankenspiel wirft einer der Specher im Film beiläufig ein – in 10 oder 20 Jahren werden die USA einen Präsidenten haben, der sehr wahrscheinlich GTA und “Call of Duty” gespielt haben wird. Dieser Prozess ist unumkehrbar. Videospiele werden nicht verschwinden; manche glauben sogar, dass sie als interaktives Medium den passiven Film ablösen werden. Es wird verdammt nochmal dringend Zeit, dass Spiele denselben Respekt, dieselbe Wertschätzung erfahren wie ein Gus van Sant, wenn er “Elephant” dreht oder ein Michael Moore, der für seine reißerische Doku “Bowling for Columbine” sogar einen Oscar erhielt. The revolution will not be televised. The revolution will be interactive.

Bitte seht euch diesen Film an. Jeder, der sich auch nur einen Funken für das Thema Videospiele interessiert, der jemals hitzig über die “Flughafen”-Szene in “Modern Warfare” diskutiert hat, der beim Spielen von “Shadow of the Colossus” spürte, dass da wirkliche und wahrhaftige Kunst auf seinem Bildschirm passierte, hat eine Verpflichtung, sich “Playing Columbine” anzusehen. Das meine ich ernst. Ich gehe sogar noch weiter und fordere, dass dieser Film zum Pflichtprogramm an Kunsthochschulen gehört. Hört euch an, was Danny Ledone zu seinem Spiel “Super Columbine Massacre RPG!” zu sagen hat. Was Joel Kornek, der die Schießerei in Montreal von 2006 überlebt hat, vom Spiel hält. Hört euch an, wie klar und einleuchtend Shigeru Miyamoto die Existenz von gewalttätigen Spielen rechtfertigt. Hört euch an, wie feige der Organisator der Guerilla Gamemaker Competition (!) des Slamdance Festivals das Spiel in letzter Sekunde wieder aus dem Wettbewerb genommen hat – und wie großartig die Jury daraufhin reagierte. Schaut euch diesen Film an.

Ich kann an dieser Stelle nur nochmal dem Regisseur und Selfmade-Spieleentwickler Danny Ledonne danken, der uns so einen wertvollen, nuancierten Blick auf sein Spiel und die Spieleindustrie gibt. Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, wie viel Verachtung, Hass und konkrete Todesdrohungen dieser Mann über sich ergehen lassen musste, weil er es gewagt hatte, seine Gefühle im Bezug auf das Massaker in Littleton mithilfe eines Videospiels auszudrücken. Es gehört verdammt viel Mut dazu, sein Gesicht in die Kamera zu halten und sich zu erklären, wenn man als Monster bespuckt wird.

Ich sag’s nochmal: Bitte, bitte schaut euch diesen Film an. “Playing Columbine” ist die wichtigste Dokumentation zum Thema Videospiele, die bislang gedreht wurde. Ein aufwühlendes, kontroverses, nachdenklich stimmendes Meisterwerk, an dem gerade wir als Spieler nicht vorbeisehen können. Erste Eindrücke bekommt ihr im Trailer:

Kleiner Wermutstropfen: Leider ist “Playing Columbine” über die Homepage bislang nur per PayPal in englischer Version zu bestellen. Ich kann euch aber versichern, dass die Scheibe jeden Cent wert ist. Wenn ihr einen Account habt und Geld für diesen Film zahlen wollt, unterstützt ihn mit eurer Bestellung. Lasst euch anregen, lasst euch inspirieren, diskutiert und streitet über diesen Film. Die Zeit ist reif. Und über ein paar Rückmeldungen würde sich Danny bestimmt auch freuen (die Anregung, für den Film deutsche Untertitel produzieren zu lassen zum Beispiel…)

Der Skandal ist nicht, dass es ein Spiel wie “Super Columbine Massacre RPG!” gibt. Sondern dass es nicht mehr Spiele wie dieses gibt.

Fangt schon jetzt an zu diskutieren: Habt ihr “Playing Columbine” vielleicht schon gesehen? Was erwartet ihr nach dem Trailer? Ist es okay, ein Spiel wie “Super Columbine Massacre RPG!” zu entwickeln? Ich freue mich sehr auf eure Antworten (und ich soll dem Regisseur Feedback zu euren Reaktionen geben, also legt euch ins Zeug!).

www.playingcolumbine.com

+++UPDATE+++
Gerade hat mir Regisseur Danny Ledonne geschrieben, dass “Playing Columbine” in etwa einem Monat auch auf Amazon, per iTunes und auf anderen großen Online-Seiten erhältlich sein wird. Wer noch ein bisschen warten kann, kommt um PayPal also herum!