Wer sagt, wir könnten mit Stress nicht umgehen? Wie schon im letzten Jahr, schließen sich die letzten Tage des Fantasy Filmfests hier in Hamburg direkt an die gamescom an. Dicke Schädel, klingelnde Ohren und dieser gewisse Hass auf große Menschenmassen können den größten Filmnerd dieser Redaktion nicht davon abhalten, jeden Abend noch mindestens eine unbekannte Perle für euch zu entdecken. Los geht’s mit unserem Kopfkino-Special – und das gleich mit einem Double Feature. Boah, ey!

Harry Brown

Michael Caine ist Harry Brown. So steht es zu Beginn des Films schwarz auf weiß auf der Kinoleinwand, und es ist nicht nur eine simple Feststellung, es ist auch die Anerkennung eines der besten Schauspielers seiner Generation: Michael Caine, jüngeren Kinogängern wohl am ehesten als Butler Alfred aus Christopher Nolans “Batman”-Filmen bekannt. Er verkörpert den gebrochenen Ex-Marine mit einer so berührenden Intensität, dass man nur zustimmen kann: Michael Caine IST Harry Brown.

Harry Brown ist alt, vielleicht zu alt für diese Welt, und er hat alles verloren: Vor vielen Jahren starb seine dreizehnjährige Tochter, jetzt ist auch seine Frau ihrem langen Krebsleiden erlegen. Doch erst der brutale Mord an seinem besten Freund Len (David Bradley) wirft ihn endgültig aus der Bahn. In der Nacht zuvor hatte ihm Len offenbart, dass er von einer Bande brutaler Jugendlicher immer wieder schikaniert wird. Ohne ein Messer zur Selbstverteidigung würde er seine kleine Wohnung nicht mehr verlassen. “Ruf doch die Polizei an”, rät ihm Harry. “Da war ich schon”, gibt Len zurück, alleine gelassen von einer Gesellschaft, die sich für einen alten Mann wie ihn nicht mehr interessiert. Am nächsten Tag wird er tot aufgefunden, geprügelt und erstochen von jenen Jugendlichen, die schon seit Wochen die Gegend terrorisieren. Harry Brown hat seinen besten und letzten Freund auf der Welt an eine Bande “fucking animals” verloren. Er versteht diese Welt nicht mehr und noch weniger glaubt er an sie. Harry Brown besorgt sich eine Waffe.

“Harry Brown” ist ein klassisches Revenge-Movie, in dem ein Outsider das Gesetz selbst in die Hand nimmt, weil der Staat manchmal machtlos ist. Oder schon längst aufgegeben hat. Regisseur Daniel Barber macht nicht den Fehler, seinen Hauptcharakter zu einem Sprüche klopfenden Renter-Dirty Harry zu stilisieren (auch wenn er, sicher nicht ganz zufällig, dessen Vornamen trägt). Harry Brown ist nicht cool. Er ist alt und schwach und schnauft beim Gehen. Er zelebriert das Töten nicht; er tötet, weil er auf Gewalt keine andere Antwort mehr weiß als Gegengewalt. Am Ende des Films haben viele Menschen ihr Leben verloren. Und man fragt sich, ob die Welt jetzt schlimmer geworden ist. Oder vielleicht doch ein winziges Stückchen besser.

“Harry Brown” wurde als einer der besten Filme des Festivals gehandelt und nach Sichtung kann ich nur zustimmen. Ich habe lange kein so düsteres, ernstes und konsequent pessimistisches Drama gesehen, das nicht auf der zeitgeistigen “Alles gar nicht so gemeint!”-Welle surft. Ein erwachsener Film für ein erwachsenes Publikum, das unangenehme Fragen nicht scheut – “Was hättest DU getan? Und wäre es die richtige Entscheidung gewesen?” Eine dicke Empfehlung von mir für einen der besten englischen Filme des Jahres.

Leider hat “Harry Brown” noch keinen deutschen Starttermin.



Four Lions

In jedem Jahr gibt es im Rahmen des Fantasy Filmfests diesen EINEN Film; jenen Film, der Tabus bricht, über den alle sprechen, den man sehen muss, um mitreden zu können. 2009 war das der absolut großartige Schocker “Martyrs”. In diesem Jahr ist es eine kleine britische Komödie über vier islamistische Selbstmordattentäter.

Nein, ihr habt euch nicht verlesen. Komödie. Und zwar die mit Abstand lustigste seit Monaten, wenn nicht Jahren. In „Four Lions“ geht es um die Freunde Waj, Omar, Faisal und den konvertierten Engländer Barry, die in einer Terrorzelle leben. Oder in dem, was sie dafür halten. Nachdem ein Kurztrip in ein afghanisches Ausbildungscamp ein klitzekleines bisschen schief geht (Wie rum muss man die Bazooka halten?), planen sie auf eigene Faust einen verheerenden Schlag gegen die Ungläubigen dieser Welt. Ganz klar: Irgendwas muss in die Luft fliegen, immerhin erwartet die Gotteskrieger doch das Paradies! Doch schon bei der Planung zeigt sich, dass die vier Dschihadisten zwar sehr entschlossen, aber leider auch himmelschreiend dämlich sind. Was sprengt man wohl am besten in die Luft? Ihre eigene Moschee (“Damit rechnen sie nie?”)? Das Internet? Und wie bitteschön soll man sein Drohvideo für youtube fertig kriegen, wenn einem ständig jemand durchs Bild läuft?

“Four Lions” ist so ziemlich die schwärzeste Farce, die ich jemals gesehen habe. Wer über real existierende Grausamkeiten wie Selbstmordattentate oder religiös motivierte Gewaltverbrechen nicht lachen kann, sollte nicht mal im Traum daran denken, eine Kinokarte zu kaufen. “Wie bist du denn drauf? Darüber KANN man ja auch nicht lachen!”, wendet ihr jetzt vielleicht empört ein. Doch. Kann man. Ich hätt’s vorher auch nicht geglaubt, aber als der ganze Kinosaal in hysterisches Grölen ausbrach und ich tränenüberströmt im Kinosessel hing, wurde mir wieder klar, dass Humor keine Grenzen kennt. Jeder hat das Recht darauf, verarscht zu werden. Auch und gerade Terroristen.

Apropos Humor: An dem hängt natürlich alles bei einem so delikaten (oder sollte ich sagen: bis zur Schmerzgrenze politisch inkorrekten) Aufhänger. Wenn Gags nicht zünden, ist das für “normale” Komödien schon das Todesurteil. Wenn ein offensiv provokanter Film wie “Four Lions” nicht wirklich, wirklich witzig ist, werden die Macher aus dem internationalen Filmbusiness schneller ausgeschlossen als ich aus dem “Final Fantasy”-Fanclub. Hier muss jede Szene sitzen – und sie tut es. Fernab von debilen Blödeleien wie in “Kindsköpfe” und ähnlichem Kappes, ensteht der Witz in “Four Lions” zumeist in den messerscharfen, herrlich bescheuerten Dialogen. Stellt euch “Snatch” mit Terroristen vor, dann habt ihr eine ungefähre Ahnung. An dieser Stelle plädiere ich auch noch mal ausdrücklich für die Originalfassung: Eine synchronisierte Version kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Schaut ihn meinetwegen mit Untertiteln (die sich aufgrund der manchmal extrem schnellen Sprechgeschwindigkeit ohnehin empfehlen), aber bitte nicht auf deutsch. Das wäre Kunstvandalismus.

Für mich ist “Four Lions” die Neuentdeckung des Jahres und einer der besten Streifen 2010. Ich habe mich sofort in diesen unendlich witzigen, mutigen, bitterbösen und doch seltsam warmherzigen und optimistischen (!) Film verliebt. Darf man das? Ja, das darf man, denn “Four Lions” glorifiziert zu keiner Zeit Fanatismus oder bestimmte Glaubensmodelle. Im Gegenteil: Die vier Löwen stellen sich so dilletantisch an, dass man eher aufrichtiges Mitleid denn Bewunderung empfindet. Liebenswerte Trottel, die vor allem eines sind: Menschlich. Von wie vielen Filmcharakteren kann man das schon wirklich behaupten? In Hamburg hat der Film letzte Woche den begehrten “Fresh Blood”-Award für das beste Debüt oder den besten Zweitfilm gewonnen. Und zwar völlig zu Recht und erwartet.

Ach ja: Schaut euch AUF KEINEN FALL den Trailer an! Denn der zeigt, wie so oft, wirklich alle witzigen Szenen und ist damit mal wieder ein sicherer Garant dafür, sich den Filmgenuss zu verderben. Ist es denn so schwer, einen Trailer zu schneiden, der NICHT alle Highlights schon Monate vor dem Start rausfeuert? Scheinbar, deswegen zeige ich euch an dieser Stelle nicht den Spoiler-Trailer, sondern eine Szene aus dem Film. Terroranschläge vorbereiten für Dummies:

Fan-tas-tisch. Leider hat auch “Four Lions” noch keinen offiziellen Starttermin für Deutschland.

Und während ihr euch auf den kommenden zweiten Teil des FFF-Specials freut (ODER?!?), meldet euch doch zu Wort: Wart ihr auch auf dem Fantasy Filmfest? Was habt ihr gesehen?